Moderne Therapien mit Perspektive Wer wagt, gewinnt: Cannabismedizin für Anfänger

Autor: Tobias Stolzenberg

Cannabisblüten werden schon seit Jahrtausenden als Heilmittel und Rauschdroge verwendet. Cannabisblüten werden schon seit Jahrtausenden als Heilmittel und Rauschdroge verwendet. © Michael – stock.adobe.com

Für welche Patientinnen und Patienten kommen Cannabinoide infrage? Was muss man beim Verordnen beachten? Unsere Podcastfolge zur Cannabis­medizin gibt Antworten.

Seit der Gesetzesänderung 2017 hat die Verordnung von medizinischem Cannabis in Deutschland an Dynamik gewonnen. Dennoch herrscht unter Ärztinnen und Ärzten häufig Verunsicherung, wie sich die Cannabinoide therapeutisch sinnvoll einsetzen lassen, meint  Prof. Dr. Kirsten­ Müller-­Vahl­, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover in unserer aktuellen Podcastfolge von O-Ton Allgemeinmedizin.

„Ich empfinde Cannabis als moderne Medizin“, betont Prof. Müller-­Vahl. Die Legalisierung von medizinischem Hanf habe wichtige Voraussetzungen geschaffen, um die Cannabinoide als Therapie­option zu etablieren. Insbesondere bei bislang schwer behandelbaren Erkrankungen wie dem Tourette-Syndrom zeige sich das Potenzial der Substanzen. Prof. Müller-Vahl war bereits vor 25 Jahren auf Patientinnen und Patienten mit dieser neuropsychiatrischen Störung gestoßen, die von einer Symptomlinderung durch Cannabis berichtet hatten. Das stellte den Ausgangspunkt für ihre klinische Forschung dar, für die sie aber aufgrund der damaligen Gesetzeslage auf importierte Präparate zurückgreifen musste.

Die Cannabispflanze enthält über 100 Cannabinoide, von denen Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) am besten untersucht sind. Prof. Müller-Vahl erklärt: „THC ist ein starker Agonist am Endocannabinoidsystem, das heißt es stimuliert die beiden Cannabinoidrezeptoren CB1 und CB2. Das, was der Körper physiologisch sowieso schon macht, wird dadurch verstärkt.“

Die Wirkmechanismen des CBD sind deutlich komplexer und in gewisser Weise antagonistisch zu den THC-Effekten. Darüber hinaus beeinflusst CBD in vielfältiger Weise ganz andere Transmittersysteme wie die GABAergen oder die serotonergen Regelkreise. Zugleich hat die Substanz antiinflammatorische, möglicherweise auch tumorhemmende Effekte. Man stehe erst ganz  am Anfang, die Wirkmechanismen des CBD und seinen möglichen thera­peutischen Nutzen zu verstehen, beschreibt die Expertin.

Von Multipler Sklerose bis zum Tourette-Syndrom

Zugelassene Fertigarzneimittel auf Cannabisbasis gibt es in Deutschland derzeit nur für Spastiken bei Multipler Sklerose, Übelkeit bei Chemotherapie und für bestimmte seltene Formen von Epilepsie bei Kindern. Darüber hi­naus gilt die Cannabinoidbehandlung bei chronischen Schmerzstörungen, insbesondere beim neuro­pathischen Schmerz, sowie in der Palliativmedizin als gut etabliert. Daneben erstreckt sich ein großes Feld möglicher weiterer Indikationen, so Prof. Müller-Vahl. Dazu zählen neurologische, psychiatrische oder internistische Erkrankungen wie das bereits erwähnte Tourette-Syndrom, Morbus Parkinson oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen.

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Die Dosierung erfolgt stets patientenindividuell. Insbesondere für THC-haltige Rezepturarzneimittel gilt das Grundprinzip „start low, go slow“: mit einer sehr niedrigen Dosis beginnen und nur ganz allmählich erhöhen, um die typischen Nebenwirkungen wie Schwindel, Benommenheit oder Müdigkeit zu minimieren. CBD hingegen könne schnell in höheren Dosen gegeben werden.

Prof. Müller-Vahl plädiert für mehr Mut beim Einsatz der Cannabinoide und gibt Tipps für Verordnung und Kostenübernahme. Der erste Patient sei sicherlich der schwierigste und selbstverständlich müsse man umsichtig und mit Bedacht vorgehen. „Die Cannabistherapie ist aber einfacher, als es von außen aussieht.“ Als Heilkraut hat die Hanfpflanze eine jahrtausendealte Tradition, wurde aber im 20. Jahrhundert durch restriktive Prohibitionspolitik verteufelt, erläutert sie. „Wir erkennen mittlerweile, dass das falsch war, dass Cannabis bei Weitem nicht so gefährlich ist und dass es viele sinnvolle Einsatzgebiete gibt.“

Quelle: Medical-Tribune-Bericht